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KINOMICHI – METHODE NORO

„Ich stand einfach zwischen Leben und Tod“

Masamichi Noro gründete 1979 in Paris Kinomichi, eine Körperarbeit, die auf den Bewegungen des Aikido basiert und durch sanfte Körperarbeit östliche und westliche Bewegungsansätze miteinander verbindet. Aufgrund unterschiedlicher Erfahrungen in Europa ergänzte und veränderte Meister Noro sein Aikido mit Ansätzen aus der westlichen Körperarbeit, zu nennen sind z.B. Dr. Lily Ehrenfried, Gerda Alexander oder auch Graf Dürckheim. Daraus entstand Kinomichi – Methode Noro. Kennzeichnend sind sowohl langsame als auch schnelle Bewegungstechniken mit wechselnden Partnern. Meister Noro lehrte seine Methode vor allem in Paris, wo er 2013 im Alter von 78 Jahren starb. Das folgende Gespräch führte Bernd Sobolla 1998 mit Meister Noro in Berlin. Es war eines der ersten Interviews, in dem er ausführlich über seine Kunst sprach.

https://www.youtube.com/watch?v=xmp1jqcSy3g

Bernd Sobolla: Meister Noro, das Kinomichi besteht seit 1979. Aber diese Kunst ist aus den Erfahrungen Ihres ganzen Lebens entstanden. Wann hatten Sie erstmals das Gefühl, Körper und Geist zu vereinen? War das bereits bei Ihrem Lehrer, Meister Ueshiba?

Meister Noro: Für mich begann die Kreation des Kinomichi damit, dass ich mich entschloss, Meister Ueshibas Weg zu folgen. Ich habe mich von seinem Unterricht, von seiner Lehre ernährt. Aber ein Tiger, der sich nur von Hasen ernährt, wird trotzdem nie zu einem Hasen. Meister Ueshiba gab mir gute Nahrung – seine Gedanken, seine Ideen. Aber natürlich wurde ich dazu nicht zu Meister Ueshiba.  Eines Tages muss jeder erwachsen werden. Und als er zu mir sagte: „Noro, du gehst jetzt nach Europa!“, hatte er wohl die Idee, dass ich erwachsen und reif war. Er schickte mich mit der Idee los, dass ich in der Lage war, aus der Nahrung, die er mir gegeben hatte, wie ein Koch meine eigenen Speisen zubereiten zu können. Das sind die Wurzeln. Und je mehr Zeit verging, desto mehr entwickelte ich mich, umso mehr bekam ich Lust, meine Gedanken, meine eigenen Ideen zum Ausdruck zu bringen. Also wirklich Noro zu sein.

Sie kamen 1961 nach Europa. War das nur der Wunsch von Meister Ueshiba oder war es auch ihr eigener Wunsch?

Das ist mein Schicksal.

Noro, Kinomichi, Sobolla

Meister Noro während eines Lehrgangs Anfang der 1990er Jahre. Foto: Bernd Sobolla

Der Wunsch nach Frankreich zu gehen

 

Sie hätten ja auch nach Amerika gehen können?

Auch dass ich nach Frankreich kam, ist mein Schicksal. Ich liebe Musik. Und mit fünf Jahren sang ich bereits französische Chansons. Schon als kleiner Junge kannte ich französische und deutsche Lieder. Ich kann übrigens noch immer die deutschen Lieder singen. Aber schon in dem Kindesalter tauchte der Wunsch in mir auf, irgendwann nach Frankreich zu gehen.

Was war Ihr erster Eindruck, als Sie nach Europa kamen?

Ich hatte nur den einen Gedanken im Kopf: „Wie kann ich Erfolg haben? Wie werde ich das realisieren können, weswegen ich hergekommen bin?“ Ich hatte diesen jugendlichen Ehrgeiz, dass das, was ich wollte, auch gelingen sollte. Ich kam damals in Cannes an. Es gab nur den Wunsch, dass es mir gelingen möge. Meister Ueshiba hatte mir vertraut, und ich wollte ihm etwas zurückgeben. Das war für mich das Wichtigste.

Ich hatte gedacht, allein mit Technik würde mir alles gelingen

Sie hatten Erfolg. Was waren die wichtigsten Schritte dazu?

Das Wichtigste war, dass ich nicht so unterrichten durfte wie in Japan. Zuerst musste ich Frankreich und die französische Mentalität kennenlernen. Wie waren die Menschen hier? Ich kann mich erinnern, dass ich zu Anfang eine totale Niederlage erlebte. Eigentlich ging zunächst alles schief. Das war wie eine Ohrfeige. Ich hatte geglaubt, allein mit meiner Technik und mit meinen Kenntnissen des Aikido würde mir alles gelingen. Alles wäre leicht. Aber das Gegenteil war der Fall. Ich musste mich  schnell in die europäische bzw. französische Gedankenwelt hineinversetzen. Bevor ich nach Frankreich kam, hatten mir alle gesagt, dass die Gedanken des Orients und des Okzidents fundamental verschieden seien. Aber das war gar nicht der Fall. Auch hier gab es Menschen. Ich war ein Mensch, der anderen Menschen begegnete. Und es ging nur darum, den Kontakt zu finden. Da gab es gar nicht so viele Unterschiede. Die Kulturen sind unterschiedlich, die Sitten und Gebräuche, die Ernährungsweise. Aber die Menschen unterscheiden sich nicht sehr.

https://www.youtube.com/watch?v=qSPXi6lK0W4

Der weiße Wirbelwind

1966 hatten Sie einen schweren Autounfall. Was hat sich danach für Sie geändert?

Bis dahin hatte ich eine ungeheure Kraft und konnte mich sehr schnell bewegen. Mit meiner Kraft und Geschwindigkeit habe ich oft viele Leute in Erstaunen versetzt. Als ich vor kurzem in Spanien war, sagten einige Leute: „Noro? Diesen Namen kenne ich irgendwie. Das war dieser weiße Wirbelsturm. Ah, der ist wieder hier?“ Aber nach meinem Unfall konnte ich mich nie wieder so schnell bewegen. Vielleicht haben das die anderen gar nicht so wahrnehmen können, aber ich habe das gespürt. Die physische Veränderung, die mit diesem Unfall einherging, war für mich höchst erstaunlich.

Die Lektion meines Lebens

War das eher eine innere Veränderung? Denn ich kann mich an die Videos erinnern, wo Meister Asai Sie als Uke angreift, das müsste etwa 1969 gewesen sein, das sind für mich die schönsten Aikido-Aufnahmen, die ich kenne. Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob die Geschwindigkeit, die man auf diesen Aufnahmen sieht, real ist oder durch das Konvertieren von verschiedenen Bändern entstanden ist.

Die innere Veränderung und die Veränderung des Körpers liefen gleichzeitig ab. Ich hatte damals über 250 Aikido-Gruppen. Als ich meinen Unfall hatte, glaubten die meisten gar nicht, dass ich wiederkäme. Als ich im Krankenhaus lag, kam ein Schüler zu mir und sagte: „Hier, ich habe einen solchen Brief bekommen.“ In dem Brief stand, dass ich am Ende wäre und wieder nach Japan zurückgehen müsste und dass ein anderer meinen Platz einnehmen würde. Ich war sehr erstaunt. Ich hatte nie daran gedacht, nach Japan zurückzugehen. Ich stand einfach zwischen Leben und Tod. Gleichzeitig hörte ich, wie die meisten meiner Schüler nach und nach weggingen. Am Ende blieben zwei, drei Personen übrig. Das war für mich die schwerste Verletzung. Die erste große Ohrfeige. Es gab einerseits körperliche Verletzungen, andererseits aber auch Enttäuschungen. Eigentlich bin ich ein sehr fröhlicher Mensch. Und das hat mich wahrscheinlich auch gerettet. Wenn ich ein jähzorniger Mensch gewesen wäre, hätte das sicherlich mein Ende bedeutet. Das war die Lektion meines Lebens.

Wie lange haben Sie damals im Krankenhaus gelegen?

Eine Woche, nachdem ich diesen Brief gesehen hatte, verließ ich das Krankenhaus. Die Ärzte sagten mir, dass es Selbstmord wäre, wenn ich jetzt ginge. Aber ich wusste, ich musste einfach wieder in Form kommen. Nicht aus Wut, aber aufgrund der Enttäuschung. Auch wegen meines Freundes, der diesen Brief an alle Schüler geschickt hatte. Insgesamt war ich höchstens drei Wochen im Krankenhaus. Und derjenige, der mir damals am meisten half, war mein Freund und Aikidomeister Katsuaki Asai. Ohne ihn würde ich heute nicht mehr leben.

 

„Ich lehne Ihre Einladung ab, Graf Dürckheim“

 1969 sind Sie Graf Dürckheim begegnet. Auch mit ihm verbindet Sie eine Freundschaft. Was machte diese Freundschaft aus?

Graf Dürkheim rief mich eines Tages in Paris an, weil ihm ein Schüler von mir erzählt hatte. Er rief mich an und lud mich zum Essen ein. Ich sagte zu ihm: „Mein Herr, ich kenne Sie nicht!“ Und Dürckheim sagte: „Aber Sie kennen doch mein Hara. Ich lade Sie trotzdem ein.“ Ich sagte: „Tut mir leid! Das ist sehr nett, aber ich lehne Ihre Einladung ab. Auf Wiedersehen!“ Am nächsten Tag kam er mit der Gräfin, seiner Frau. Und als ich sah, wie er da vor der Tür stand, seine Erscheinung, in dem Moment habe ich mich vor ihm verbeugt und habe gesagt: „Ich will zu Graf Dürckheim.“ Und Dürckheim freute sich. Wir haben dann zwei Stunden miteinander verbracht, haben uns nur angeschaut, gar nicht miteinander gesprochen. Es gab eine ganz große Anziehungskraft.

War das eine Art seelische Verbindung?

Ja, genau das war es. Ja, das war unsere erste Begegnung. Und danach hat er mich gleich nach Rütte eingeladen.

„Wir saßen zusammen, ohne groß zu reden“

Dass Sie öfter in Rütte waren, weiß ich. Inwieweit wurden Sie durch Graf Dürckheim beeinflusst?

Bei Meister Ueshiba war es so, dass mich sein Unterricht nährte, sein Denken, seine Vorstellungen. Deshalb habe ich alles, was ich von Meister Ueshiba bekam, aufgesogen. Bei Dürckheim reichte es mir, einfach mit ihm zusammen zu sein,  einfach nur neben ihm zu sitzen. Eines Tages fing Dürckheim an, mir seine Theorien zu erläutern. Da habe ich gesagt: „Ich bin nur gekommen, um mit Ihnen zusammen zu sein. Ich bin nicht gekommen, um mir von Ihnen irgendwelche Geschichten anzuhören. Außerdem reden Sie zu viel vom Hara. Das ist mir unerträglich. Das kann ich nicht hören.“ Und dann ging ich. Ich kam öfter nach Rütte, um Graf Dürckheim einen Gefallen zu tun. Dann fragte ich ihn: „Graf, kann ich Ihnen irgendeinen Gefallen tun?“ Und dann sagte er: „Ja, zeigen Sie mir bitte Schwertbewegungen.“ Er war damals schon fast blind. Und dennoch nahm er wahr, was ich mit dem Schwert machte. So lud er mich immer wieder ein. Ich wollte immer einen Café und Schwarzwälder Kirschtorte. Er wusste, dass ich das besonders schätzte. Und so saßen wir zusammen, ohne groß zu reden. Wir saßen zusammen, tranken Kaffee und aßen Torte. Und so gingen ein, zwei Stunden vorbei. Manchmal verbrachten wir so mehrere Tage miteinander. Und dann sagte ich: „Auf Wiedersehen!“ Und wenn Dürckheim nach Paris kam, sagte er: „Kommen Sie, wir gehen in einen schönen Teesalon!“ Und dann gingen wir Kuchen essen. Ich war einfach glücklich in seiner Gegenwart. Mit Meister Ueshiba war ich glücklich, wenn ich mich mit ihm bewegen konnte, in der Arbeit. Ich war mit Meister Ueshiba sechseinhalb Jahre 24 Stunden am Tag zusammen. Es gab niemanden anderen, der so mit Meister Ueshiba gelebt hat. Das hätte auch kein anderer ausgehalten. Aber für mich war es eine Freude. Bei Dürckheim genügte es mir mit ihm zusammen zu sein. Eines Tages, während ich unterrichtete, bekam ich einen Telefonanruf. Dürckheim war am Apparat und sagte: „Lieber Freund, ich bin gerade in Frankreich, komm schnell her!“ Ich sagte: „Wo sind Sie denn?“ „In Limoges“. Ich sagte: „Okay, ich komme! Übernehmt hier alles! Dürckheim braucht mich. Ich muss schnell hin.“ Also musste ich von Paris nach Limoges fahren. Ich brachte ein Schild an: „Wegen dringender Familienangelegenheiten  (…)“.

Meister Noro mit Graf Dürckheim 1981 in Todtmoos (Schwarzwald). Foto: Marie & Eckhart Motsch

„Schauen Sie sich Ihre Schüler an!“

Und was haben Sie ihn Limoges gemachten?

Wir gingen Angeln. Und ich war glücklich. Ich habe für ihn gekocht, und Dürckheim hat abgewaschen. Und so haben wir drei, vier Tage miteinander verbracht. Ich war vielleicht der einzige, auf den Dürckheim hörte. Wenn ich sagte: „Mach das besser nicht!“, war seine Frau ganz dankbar. Alle anderen verbeugten sich vor ihm: „Oh, Herr Graf, der weise Mann (…)“. Aber eines Tages, als er immer wieder vom Hara sprach, sagte ich: „Sie mit Ihrem Hara! Schauen Sie sich mal Ihre Schüler an! Die haben doch alle gar kein Hara. Das ist das Gegenteil.“ (Noro lacht.) Das hat ihn wütend gemacht. Aber mir hat es Spaß gemacht, ihn aus der Fassung zu bringen. Dürckheim kam ja immer sehr weise daher. Aber kaum hatte ich das gesagt, war er wütend.

Ich habe in Ihrem Buch gelesen, dass Sie sich zwischen 1972 und 1979  in einer  Übergangsphase zum Kinomichi befanden. Wie sah dieser Prozess aus?

Energie! Eine Frage der Energie! Mich hat immer beschäftigt, wie man Ki gebrauchen kann. Die Energie benutzen. Im Aikido wollte ich sehr stark sein. Ich habe alles praktiziert, was mir dabei irgendwie hilfreich sein konnte. Ich habe z.B. sehr intensiv Zen praktiziert. Kaum hörte ich von etwas, was mir mehr Kraft geben könnte, war ich sofort neugierig. Meistens glaubt man, dass ein Mensch, der sehr stark ist, sehr ruhig sein müsste, absolut im Gleichgewicht. Und dass er in dem Moment, wo er explodiert, eine außergewöhnliche Kraft entfaltet.

Inneres Gleichgewicht

Was für ein Gefühl kam in Ihnen zwischen 1972 und 1979 auf?

Als erstes realisierte ich, dass ich kein ruhiger Mann geworden war. Ich war aggressiv, innerlich unruhig und in einem schlechten inneren Zustand. Dabei war ich vom Charakter her eher ein fröhlicher Mensch. Ich fragte mich, wann ich diese innere Ausgeglichenheit finden würde?

Energieblockade

 Haben Sie diese Unausgeglichenheit vor 1972 auch verspürt?

In Ansätzen hatte ich das vorher auch gespürt. Aber in dieser Phase eskalierte es, wurde unerträglich. Viele sagten mir: „Ah, das liegt daran, dass Sie müde und erschöpft sind.“ Ich habe das auch geglaubt. Und dann schlugen mir zwei französische Physiotherapeutinnen vor: ‚Kommen Sie, wir werden Sie mal behandeln. Legen Sie sich auf den Boden!‘ Sie haben meinen Arm gegriffen. Und es gab eine ganz sanfte Dehnung und Streckung. Und da habe ich erst einmal gespürt, bis zu welchem Punkt mein ganzer Körper verkrampft war – alle Muskeln in meinem Körper. 30 Minuten lang zogen sie an meinen Armen. Und ich spürte, wie nach und nach die physische Spannung abfiel und wie gleichzeitig mein Kopf anfing, ruhig zu werden. Da spürte ich, wie blockiert meine eigene Energie war. Das war ein großes Erlebnis für mich. Meine Unausgeglichenheit beruhte auf einer Blockade der Energie. Ich hatte eine permanente Spannung in mir. Als ich spürte, wie ich all das loslassen konnte, kam eine große Freude in mir auf.

War diese Dehnungserfahrung die zweite Geburtsstunde des Kinomichi?

Ja, das könnte man vielleicht so nennen. Aber für mich war es eher eine logische Entwicklung, eine Fortsetzung. Es gab eine Verbindung.

Der Schritt zum Kinomichi war nicht etwas Plötzliches, sondern eine Entwicklung?

Genau, eher eine kontinuierliche Entwicklung. Ich glaube nicht an plötzliche Kicks.

Eine einfache Frage, aber einfache Fragen sind manchmal ganz schwer: Was ist Kinomichi?

Ich bin Kinomichi. Meine Erfahrung, meine Geschichte, mein Charakter, alles kommt in meiner Übung zum Ausdruck. Wenn man so will, ist Kinomichi meine Geschichte.

Noro, Sobolla
Meister Noro mit Heike Sobolla, 1991. (Foto: Bernd Sobolla)

Der energetische Aspekt wird außer Acht gelassen

Kinomichi sind Körperübungen, Bewegungstechniken. Dennoch betonen Sie vor allem den Kontakt.

Das ist die Basis. Wie sollte unsere Erde existieren, wenn es nicht Beziehungen zwischen Menschen gäbe? Im Grunde ist die Beziehung von Menschen definiert durch die Begegnung von Ki und Ki.

Es ist eine energetische Beziehung. Aber heute werden Beziehungen wesentlich unter kulturellen oder soziologischen Aspekten betrachtet. Und der energetische Aspekt wird außer Acht gelassen. Die westliche und die östliche Kultur sind vollkommen unterschiedlich, weil es unterschiedliche Erziehungssysteme und Schwerpunkte der Sozialisation gibt. Aber im Grunde geht es um Menschen. Und ihre Grundlage, ihre Energie ist die gleiche. Das hatte ich bis dahin getrennt gesehen und hatte unter dem Gesichtspunkt versucht, Kontakt zu den Menschen herzustellen. Es ist logisch, dass das nicht funktionierte. Obwohl ich Ai – Ki – Do  gemacht hatte, hatte ich das Ki nicht wirklich verstanden. Das alles ist in diesem Wort enthalten. Die Basis hatte ich nicht verstanden, dass es etwas Universelles ist, das alle Menschen eint.

Frieden hängt vom Ki ab

Das Prinzip des Ki steht im Zentrum verschiedener Künste. Im Aikido, Shiatsu usw. Wo gibt es Bereiche, die es nur im Kinomichi gibt?

Seit Jahrhunderten gibt es in Asien die Diskussion: Was ist Ki? Und in jedem Jahrhundert wurden andere Antworten gegeben. Es war klar, dass es praktischer Übungen bedurfte, um die theoretischen Überlegungen zu begleiten, zu überprüfen, zu rechtfertigen. Ich hatte vor kurzem eine Begegnung mit einem chinesischen Schriftsteller und Filmemacher.

Er hat bei mir Kinomichi gemacht. Und nach den ersten Stunde kam er und sagte: ‚Ich würde gerne mit Ihnen reden.‘ Und als erstes hat er sich bei mir bedankt. Und dann hat er gesagt: ‚Ich suche den Weltfrieden. Diesen Frieden zu realisieren, das ist keine Frage der Intelligenz, sondern der Energie. Die ganze Existenz des Friedens auf der Erde hängt ab vom Kontakt des Ki der Menschen zueinander. Man kann sagen, China sei das Mekka des Ki. Da suchen alle. Da gibt es eine Unmenge an verschiedenen Übungsarten und Übungsstilen. Ich habe mir all das in China angeschaut, alle möglichen taoistischen Übungen. Und ich bin davon sehr enttäuscht gewesen. Mit all diesen Übungen ist es nicht möglich, den Weltfrieden zu realisieren.‘ Er ist nach Japan gefahren, weil er gehört hatte, dass das Aikido es vielleicht sein könnte. Er hat Aikido gemacht und war wieder enttäuscht. Und dann ist er zum Kinomichi nach Paris gekommen, hat  zwei Stunden Kinomichi gemacht und war überwältigt. Und er sagte: ‚Danke, das ist es, was ich schon seit Jahren gesucht habe.‘ Es gibt natürlich viele Übungen: Tai Chi, Shiatsu, Akupunktur … Aber all diese Übungen sind unterschiedlich und haben unterschiedliche Zielsetzungen.

Künstler müssen den Raum um sich herum gestalten

Gerade im Kinomichi gibt es viele Leute, die im künstlerischen Bereich arbeiten. Warum fühlen sich gerade diese Leute vom Kinomichi so angezogen?

Weil Künstler diese Fähigkeit brauchen, den Raum um sich herum zu gestalten. A, der erste Buchstabe des Alphabets, symbolisiert schon die Entstehung des Raumes. Musik ist reiner Raum. Malerei ist Raum. Gestaltung im Raum mit Ki. Ohne Ki gäbe es keine Künstler. Aber wenn es nicht gelingt, den richtigen Raum zu gestalten, dann ist ein Künstler kein Künstler. Ein Musiker, der keinen Raum entfalten kann, ist kein wirklicher Künstler. Ki ist Raum. Außerdem sind Künstler auch sehr empfindliche und sehr empfindsame Menschen. Und alle sind auf der Suche, sich zu perfektionieren. Alle kommen, bringen ihre Freude zum Ausdruck und erfahren eine Verwandlung und eine Entwicklung.

Kann man sagen, dass es Menschen, die eine größere Sensibilität haben, es einfacher beim Kinomichi haben?

Ja, das könnte man sagen. Aber ich glaube, dass alle Menschen über diese Sensibilität verfügen. Alle Menschen haben die Voraussetzungen dafür, in ihrem Körper. Das ist keineswegs nur etwas für Künstler. Ich liebe sensible Menschen, weil ich sehr faul bin, d.h. wenn bei den Leuten die Sensibilität schon vorhanden ist, dann habe ich weniger zu tun.

„Wenn die ganze Welt sich in dem Umgang mit dieser universellen Energie übte …“

Sie sagen, dass das Kinomichi noch nicht fertig sei. Wird es jemals einen Punkt geben, wo das Kinomichi fertig ist?

Wenn die ganze Welt Kinomichi machte, dann wäre dieser Punkt vielleicht erreicht. Ich habe zwar den Namen Kinomichi gewählt, aber eigentlich ist diese Energie die Grundlage unseres Lebens. So etwas kann man nicht einsperren, nicht zu seinem Eigentum erklären – Kinomichi. Kinomichi ist etwas Natürliches, etwas das allseits vorhanden ist. Man kann nicht sagen: Wenn wir so etwas machen, dann ist das Kinomichi. Damit grenzt man es schon wieder ein. Wenn die ganze Welt sich eines Tages in dem Umgang mit dieser universellen Energie üben und sich entfalten wird, dann…

Energie ist das Eine. Aber es gibt auch Form und Technik. Können Sie sich vorstellen, zu Ihren Lebzeiten das Kinomichi  technisch zu vollenden?

Ich sage in Paris zu meinen Schülern immer: ‚Vielleicht sage ich euch morgen, dass  alles, was ich euch bis jetzt gezeigt habe, falsch ist. Ich muss alles wieder anders machen.‘ –  Ich bin in permanenter Veränderung. Ich weiß nicht, wo es hingeht. Aber ich habe es nicht eilig.

Ist das nicht ein bisschen irritierend?

Das müssen Sie die Schüler fragen.

Noro, Sobolla, Kinomichi

Meister Noro, Salies 1991 (Foto: Bernd Sobolla)

Spiritualität ist nichts Magisches

Eine Grundlage des Kinomichi sind die 5S  „Souplesse, Sourire, Spirale, Sexy, Spiritualité“ (Geschmeidigkeit, Lächeln, Spirale, Anmut, Spiritualität).

Wie drückt sich der spirituelle Aspekt im Kinomichi aus?

Die großen Weisen haben uns Symbole hinterlassen. Zum Beispiel das Symbol des Kreuzes. Die Buddhisten haben ihre Symbole, die Shintoisten die ihrigen … Aber wenn man diese Symbole analysiert, dann sieht man, dass sie alle die Ausgeglichenheit symbolisieren. Die Ausgeglichenheit von Energien. Das ist großartig: Der Weg der Ausgeglichenheit. Wenn der Mensch seine Ausgeglichenheit verliert, dann ist das sein Ende. Spiritualität ist Nahrung für den Menschen. Aber Nahrung wofür? Für seine Ausgeglichenheit. Viele sehen in Wasser und Feuer zwei Elemente, die sich bekämpfen, sich gegenseitig auslöschen. Aber das ist eine begrenzte Interpretation. Wie entsteht Leben in einer Zelle? Die wichtigsten Elemente dafür sind Wasser und Feuer, für den Ursprung des Lebens. In dem Momente, in dem diese beiden Energien in Konfrontation zueinander stehen, wäre das das Ende. Aber wenn diese beiden Energien absolut gleichgewichtig sind, so wie es sich in der Geste des Kreuzes ausdrückt … Spiritualität ist nichts Mystisches oder Magisches. Das ist gar nicht so spektakulär. Das ist einfach nur der Mensch in seiner Ausgeglichenheit. Ich bin immer wieder aufs Neue erstaunt, wenn im Frühjahr die kleinen Gräser wieder aus der Erde kommen. Diese großartige Kraft, die sich jedes Jahr in jedem Frühjahr wieder neu manifestiert.

Auch Pyramiden stehen für Spiritualität.

Die Klassifikation der Bewegungstechniken im Kinomichi basiert auf den entsprechenden Symbolen der Zahlen, z.B. gibt es 3 Grundbewegungen zur Erde und 3 Grundbewegungen zum Himmel in der Initiation I.

Der menschliche Kontakt kommt zu kurz

Was sind momentan die größten gesellschaftlichen Probleme und wie kann das Kinomichi dazu beitragen, sie abzubauen?

Vor etwa 30 Jahren spielten Kinder mit anderen Kindern. Wer ist heute der bevorzugte Partner von Kindern? Es sind Maschinen, Fernseher, Nintendos. Es ist eine Art virtueller Realität, die sie erleben. Und was sehen sie? Flache Bildschirme. Die Illusionen entwickeln sich immer stärker.  Letzte Woche hatte mein jüngster Sohn einen Freund eingeladen. Und ich dachte, sie würden beide miteinander spielen. Aber sie saßen nebeneinander, vor sich hatten sie einen Bildschirm und starrten  zwei Stunden darauf. Und dann sagte der eine Junge: „Toll, ich habe gewonnen. Ciao, ich gehe jetzt!“ Was haben die für eine Begegnung gehabt? Was für einen Kontakt? Sie hatten nur eine Begegnung vermittelt über diese Illusion, den Bildschirm. Was brauchen wir heutzutage? Es ist wichtig, dass auch Kinder miteinander Kontakt haben, Kontakt erleben. Das gilt für jede Familie. Aber wenn die Kinder so „ernährt“ werden, damit aufwachsen … Schrecklich! Der menschliche Kontakt kommt zu kurz. Aber was brauchen Menschen? Menschen brauchen Menschen. Sie brauchen Kontakt zu Menschen. Wenn es keinen Kontakt mehr zwischen Menschen gibt, geht unsere Erde zugrunde. Deswegen ist der Kontakt das Primäre im Kinomichi. Aber natürlich geht es dabei nicht um irgendeinen Kontakt.

Sie betonen immer wieder, wie wichtig „Kontakt“ ist. Aber mir missfällt im Bezug  auf das  Kinomichi dieser Begriff. Weil es dabei vor allem um eine äußere Sache geht. So wie ich das Kinomich verstehe, wäre wohl der Begriff „Verbindung“ der passendere.

Da haben Sie vielleicht Recht. Worte sind sehr begrenzt. Sagen Sie mir, wie eine Rose riecht? Das können Sie nicht beantworten. Deswegen darf das Kinomichi nie auf der verbalen Ebene stehenbleiben.

Ein neuer Zyklus

Das Kinomichi wurde 1979 „geboren“. Die Basis steht jetzt im Großen und Ganzen. Wo gibt es jetzt noch Probleme? Was ist zu tun?

(Lacht.) Es gibt kein Problem. (Lacht). Ich habe festgestellt, dass ich einem Zyklus folge. Oder meine Entwicklung folgt einem Zyklus von etwa achtzehn Jahren. Ich bin 1961 nach Europa gekommen. Achtzehn Jahre später, also 1979, habe ich das Kinomichi entwickelt. 1997, letztes Jahr, hat der nächste Zyklus begonnen. Die ersten achtzehn Jahre waren dazu da, dem Kinomichi gute Wurzeln zu geben. In der nächsten Periode ab 1997 wächst der Baum nach oben und entfaltet seine Blätter. D.h. die nächste Aufgabe ist der Kontakt zu einem größeren Publikum. Das habe ich achtzehn Jahre immer abgelehnt. Noch vor zwei Jahren hätte ich ein Interview wie dieses hier abgelehnt.

Genau das scheint das Problem zu sein. Die Verbreitung!

Das ist normal am Anfang. Früher hatte ich 1.200 Schüler. Heute habe ich viel weniger Schüler. Ich habe damals zu meiner Frau gesagt: „Wenn ich das mache, wie ich es mir vorstelle, werde ich wahrscheinlich alle Schüler verlieren. Ich werde vielleicht nicht mehr in der Lage sein, unsere Kinder zu ernähren. Entweder mache ich weiterhin Aikido und wir können ganz komfortabel davon leben …“ Aber meine Frau sagte zu mir: „Gehe deinen Weg! Wir sind da. Wir halten zu dir.“ Und plötzlich hatte ich nur noch ein Zehntel der Schüler. Aber jetzt ist eine gute Grundlage vorhanden.

Wie sieht die aktuelle Situation aus?

Ich kann nicht sagen, wieviele Leute heute Kinomichi machen. Ich frage auch meine Schüler, die Dojos leiten, nicht: Wieviele Schüler habt ihr jetzt? Mich interessieren die Zahlen nicht so sehr.

Meister Ueshiba hatte zehn Schüler

Vor kurzem führte ich ein Interview mit einem Zen-Schüler von Meister Deshimaru. Der stellte einen Vergleich auf: Ein Baum, der zu schnell wächst, ist schwach.

Natürlich. Das ist logisch. Meister Ueshiba hatte 50 Jahre gebraucht. Nach 50 Jahren fing eine kleine Entwicklung an. Als ich zu Meister Ueshiba kam, hatte er zehn Schüler. Stellen Sie sich dazu die Entwicklung vor, die das Aikido heute genommen hat.

Beim Aikido war ein wesentlicher Schritt die Internationalisierung, dass Meister Ueshiba viele seiner Schüler in die ganze Welt schickte, um das Aikido zu verbreiten. Ist das Kinomichi jetzt auch an einem ähnlichen Punkt angekommen?

Nein, das Kinomichi ist noch nicht an diesem Punkt angekommen. Ich würde auch nie jemanden darum bitten, in irgendwelche anderen Länder zu gehen. Außerdem: Schauen Sie doch einmal, was aus dem Aikido geworden ist! Wieviele miteinander konkurrierende Organisationen gibt es, obwohl die Rede von Harmonie und Liebe ist? Wieviele Organisationen bekämpfen sich allein in Frankreich? In einem kleinen Land wie Belgien gibt es zehn verschiedene Aikido-Verbände.

Aber in Frankreich hat es immerhin die Gründung eines Dachverbandes gegeben.

Der ist vom Staat vorgeschrieben worden.

Was für Wünsche oder Visionen haben Sie für das Kinomichi in den nächsten Jahren?

Sie stellen mir vielleicht schwere Fragen. Darüber habe ich noch nie nachgedacht.

Keine Visionen, keine Wünsche?

Eines Tages soll die ganze Welt Kinomichi machen. Und dann kann das Wort Kinomichi verschwinden. Das ist meine allergrößte Ambition.

Mensch, Himmel, Erde

 In Ihrem Buch gehen Sie auf Ihre buddhistische und shintoistische Erziehung in ihrer Kindheit ein. Drückt die sich heute noch in irgendeiner Form aus? 

Ich bin nicht wirklich davon beeinflusst. Für mich ist mein Leben ein spiritueller Weg, die Suche nach Wahrheit. In Japan heißt das Zeichen für Gott, Gottheiten: „Kami“, das Zeichen weist auch auf die Elemente Feuer und Wasser hin. Das Feuer steigt zum Himmel auf, das Wasser fließt zur Erde hinab. Das hören meine Schüler in der energetischen Arbeit sehr oft von mir: Erde, Mensch, Himmel.

Interview: Berlin, 1998 – Bernd Sobolla im Gespräch mit Maître Noro

Übersetzung: Andreas Lange-Böhm / Heike Sobolla / Annegret Mess